Im Gefängnis
- Talartante
- 23. Aug. 2022
- 6 Min. Lesezeit

12 Namen gab mir die deutsche Missionarin. 12 Namen und 12 Nummern, 5 Nationen, 2 Adressen. 12 Namen von Ausländern und Ausländerinnen in Taiwan. Alle sind länger hier, als geplant. Die einen wissen noch nicht, wie lange sie hier sein werden, die anderen wissen es genau. Die einen zählen die Wochen, die anderen haben es aufgegeben. Familie und Freund*innen sind weit. Alle drei Monate wird ein (Video-)Anruf ins Ausland gewährt. 20 Minuten. Austauschen. Schweigen. Über das Internet verbunden sein.
Dazwischen kommt nur Erika. Und weil Sommer ist und Erika zu Hause, komme ich.
Ziehe eine Nummer und warte. Der Raum ist voll von Menschen. Kinder, kleine und mittlere, Erwachsene - junge und gealterte. Manche mit Taschen voller Kostbarkeiten: weiße T-Shirts. Ein Buch. Ein Comic. Kekse, Haferflocken.
Meine Nummer ist dran. Am Schalter gebe ich dem Beamten meine Aufenthaltsgenehmigung durch die kleine Öffnung in der Glasscheibe und nenne die Nummer, die ich besuchen möchte. Ananas habe ich mitgebracht. Aufgeschnitten. In einer durchsichtigen Plastiktüte. Die wiegt er. Und legt sie dann auf das Fließband.
Ich bekomme eine neue Nummer. Die wird irgendwann aufgerufen.
Mit ihr viele weitere. Eine Schlange bildet sich vor der Tür, die nicht besonders gesichert zu sein scheint. Meine Tasche, sogar mein Handy darf ich mit hineinnehmen.
Im Raum ist noch ein Raum. Dessen Wände haben große Glasscheiben und auf beiden Seiten stehen Stühle. Innen gibt es ein Telefon. Außen bis zu drei pro Scheibe. Ich sehe Männer. Vielleicht so um die 20. Sie tragen hellgraue Anzüge. Kurzärmlig an den Armen und den Beinen. Ich gehe, bis ich bei Fenster 36 ankomme.
Da sitzt ein Mann. Etwa 10 Jahre älter als ich. Ich weiß seinen Namen. Seine Häftlingsnummer und, dass er aus den USA kommt.
Auf ein Zeichen der Wächter heben wir die Telefonhörer ab. Ich stelle mich vor - er wusste nichts von einem, von meinem Besuch. Über die Ananas freut er sich. Wir kommen ins Gespräch, langsam. Etwas Smalltalk. Welche Fragen stellt man einem Gefangenen? Wie geht’s? Was gibt’s Neues? Was macht die Arbeit, die Familie?
Erika hatte mich vorgewarnt, dass man ganz schön auf Zack sein müsse, um die biblische Geschichte noch unterzubringen, der Redebedarf sei oft so hoch, dass es schwer sei, zu Wort zu kommen. Ich habe keine Geschichte mitgebracht. Habe nur meine beiden Ohren dabei. Und wünsche mir jetzt, doch eine Geschichte aus der Bibel oder eine andere vorbereitet zu haben. Um, in gewisser Weise, etwas da lassen zu können.
Das Gespräch wird flüssiger. Was draußen so los sei, will er wissen. Wie er mit seinem Alltag umgeht, frage ich.
Er hat hier Englisch unterrichtet. Bis etwas passiert ist. Er bleibt vage. Ich frage nicht nach. Geduld ist gerade ein Thema für ihn. Darüber schreibe auch der Prophet Mohammad viel, erzählt er. Er sei nämlich Muslim. Die Geduld von uns Menschen würde manchmal so sehr ausgereizt, dass sogar die Propheten an ihre Grenzen stießen. Vielleicht ist er kein Prophet. Seine Geduld ist begrenzt. Aber er müsse durchhalten. Er wird durchhalten. Auch wenn er nicht weiß woher, irgendwoher kommt schon noch die restliche Geduld, die er noch braucht. Von 15 Jahren insgesamt sprechen wir. Er ist noch nicht bei der Hälfte.
Ohne Vorwarnung kommt eine laut scheppernde Durchsage im Telefonhörer. Das ist das Zeichen, sagt er. Gleich ist es vorbei. Und da ist es auch schon vorbei, die 15 Minuten Besuchszeit, die Gefangene hier - je nach ‘Level’ pro Woche oder pro Monat oder gar nicht bekommen.
Ich verabschiede mich. Winke. Er reiht sich ein mit den anderen im grauen Anzug im inneren Raum. Beide verlassen wir den Ort. In andere Richtungen.
Wieder ziehe ich eine Nummer und warte. Nenne dem Beamten eine neue Nummer und einen anderen Namen. Warte und gehe mit den anderen in den Raum mit dem inneren Raum.
An der Nummer 17 wartet der Mann aus Malaysia. Klein und in sich zusammengesackt sitzt er da. 1000 Mal bedankt er sich für den Besuch.
Auf einem Schiff hat er gearbeitet. Es war ein guter Job, sagt er. Sein Blick ist voller Reue. Ich glaube, wenn er könnte, würde er die Zeit zurück drehen. In Drogengeschäfte verwickelte er sich, wurde im Transit, im Flughafen in Taiwan erwischt und jetzt ist er hier. Hat seine Frau enttäuscht. Und seine beiden Kinder. Er holt Luft. Aber Gott ist gnädig, sagt er. Es tut ihm so leid, was er getan hat. Und er betet zu Gott, dass seine Frau ihm auch vergeben wird. Er erzählt und ist den Tränen nah.
“Wollen wir gemeinsam beten?”, frage ich.
Er blickt auf. “Ja.”, sagt er.
Wir falten die Hände. In das Gebet lege ich, was ich von ihm gehört habe. Die Tränen fließen. Einen Moment betet er noch still weiter. Amen. sagt er für mich hörbar. Sein Blick geht nun wieder durch das Glas zu mir.
Wie von Erika empfohlen, frage ich, ob ich ihm noch was aus dem Gefängnisladen besorgen könne. Einfach nur schwarzer Kaffee, sagt er. Das wäre wirklich sehr nett.
Da kommt wieder die rauschende Durchsage. Wir verabschieden uns. Mit den Besten Grüßen für Erika - die mir in den kommenden Tagen noch oft mit auf den Weg gegeben werden.
Im Gefängnisladen gebe ich die Nummer von schwarzem Kaffee durch, bezahle. Die Besuchszeit für heute ist fast vorbei.
Durch das Industriegebiet laufe ich zum Bahnhof in Taoyuan.
Das Frauengefängnis ist weiter draußen und mit den Öffis nur mit dem Bus erreichbar. Der fährt einmal in der Stunde. Hier ist alles etwas kleiner und schlechter organisiert und nicht klimatisiert. Die Beamten und Freiwilligen Ruheständlerinnen, die hier arbeiten sind freundlich und hilfsbereit.
Wieder ziehe ich eine Nummer. Nicht an der Maschine. Ich bekomme sie persönlich ausgehändigt. Das Formular fülle ich hier selbst aus. Bis die Beamtin merkt, dass wir schneller sind, wenn sie es ausfüllt.
Schreib mir doch bitte einen Brief, sagt die Frau, die ich um die 60 schätze. Dann sehen die Wärterinnen, dass wir Freundinnen haben. Das wirkt sich gut auf unsere Akte aus.
Ich weiß nicht, wie lange sie schon dort ist oder wie lange sie bleiben muss. Sie freut sich über den Besuch. Bittet um ein gemeinsames Gebet. Erzählt, dass sie eine Bibel hat. In der lese sie regelmäßig. Aus dem Gefängnisladen, den es auch hier gibt, möchte sie nichts. Sie habe alles nötige, meint sie.
Seife wünscht sich die zweite Frau, die ich an diesem Morgen besuche. Sie erzählt von ihrer Familie, die auf den Philippinen ist. Ihre vier Kinder, die ihr fehlen. Von ihrer Mutter, die sich um die Kinder kümmert. Ein Jahr und 8 Monate hat sie schon hinter sich. 14 Monate folgen noch. Und sie hat Hoffnung, früher entlassen zu werden. Nach zwei Jahren insgesamt. Ob das klappt, weiß sie erst kurz vorher. Sie bangt. Und hadert mit sich und ihrer Situation. Aber sie habe eine Freundin gefunden, sagt sie und lächelt. Die spricht auch immer mit Erika. “Kennst du sie schon?”, fragt sie.
Ich lerne sie kennen, beim letzten Besuch, den ich im Frauengefängnis mache. Obwohl sie die philippinische Staatsbürgerinnenschaft hat, spricht sie Mandarin. Sie ist schon lange hier. Mehr als die Hälfte ihres Lebens. War verheiratet mit einem Taiwaner. Ist es immer noch - aber er will nichts mehr von ihr wissen. Verweigert die spärlichen Videoanrufe, auch für die gemeinsamen Kinder. Sie hofft, dass, wenn sie erst mal draußen ist, sich wieder alles einrenken wird. Dafür bittet sie mich, zu beten. Gemeinsam beten wir. Tränen laufen über Wangen. Es scheppert in der Leitung. Die Besuchszeit ist vorbei.
Gut gehe es ihm. Vor zwei Wochen konnte er von einer Schlafzelle mit 16 Mann in eine Schlafzelle mit nur 7 wechseln. Seitdem gehe es besser. Aber sehr heiß sei es. Ohne Klimaanlage im Gefängnis, bei tropischer Hitze und dürftiger Gebäudedämmung. Zweimal Duschen am Tag. Mittags so richtig mit Seife, abends drei Minuten zur Abkühlung vor dem Schlafen gehen.
Papiertüten falten, Gärtnern, Gefängniswäsche waschen. Die Arbeit gibt Struktur und hilft, dass die Zeit vorübergeht.
Einige Jahre habe er in Barcelona gelebt. In Berlin war er auch schon. Der Mittdreißiger aus Australien glaubt nicht an einen Gott und gleichzeitig freut er sich über jeden Besuch Erikas. Er weiß nicht, warum er weiter macht. Draußen wartet nicht wirklich was oder jemand auf ihn. Aber seine Mutter, die würde er gerne nochmal sehen.
Was ihn motiviert weiter zu machen, das weiß er selbst nicht. Die Ungerechtigkeit mache ihn wütend. Wenn schwächere Gefangene von stärkeren verprügelt werden. Er möchte dazwischengehen. Tut es aber nicht. Wenn er sich vorbildlich verhält, hat er Chancen, nach 8 statt nach 15 Jahren entlassen zu werden. Das möchte er nicht riskieren. Fühlt sich aber schlecht dabei, nicht einzuschreiten.
Wieder scheppert es in der Leitung.
Mein letzter Besuch ist ein kurzer: Ein weiteres, letztes Mal gebe ich eine Nummer, einen Namen mitsamt meiner Aufenthaltsgenehmigung der Beamtin durch. Erschöpft von den Geschichten der vergangenen Tage und Stunden, gefüllt mit Eindrücken, die verarbeitet werden wollen.
“Geht nicht”, sagt die Beamtin.
“Sorry?”, frage ich.
“Der ist schon nach Hause.”
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